"Ich verfüge nach Antrag"

Faksimile der Gründungsverfügung

Die Schulgründung

"Ich verfüge nach Antrag", Luitpold

Mit diesem administrativen Kürzel, gefolgt von seiner persönlichen Unterschrift nebst Titel, trug Luitpold, “des Königreichs Bayern Verweser” im Juli 1897 das Seine zur Gründung unserer Schule als “eine in der Stadt Würzburg als öffentliche Lehranstalt anzuerkennende erweiterte Fortbildungsschule für sonntagsschulpflichtige Mädchen” bei. Es hieße der Gründung unserer Schule unverhältnismäßige Bedeutung beizumessen, wenn man aus dem bloßen Vollziehungsstrich der damaligen politischen Spitze Bayerns unter die von subalternen Kultusministerialen vorbereitete Urkunde folgern würde, die erweiterte Fortbildungsschule für Mädchen in Würzburg habe zur Jahrhundertwende bayernweit Modellcharakter besessen.

Ein auf die scheinbaren Bedürfnisse von Mädchen und jungen Frauen zugeschnittener Schultyp, die nach der siebenjährigen Volksschule ihre beruflichen Chancen jenseits der Sonntagsschule verbessern wollten, existierte als “Handelslehranstalt für Frauenzimmer” bereits eine gute Generation früher sehr erfolgreich in anderen Kreisen des Königreichs Bayern, zuerst als private Schule, dann auch in kommunaler Trägerschaft, in München, Augsburg und Nürnberg. Wieso aber diese Verpätung in Würzburg?

Mit den drei größten bayrischen Städten ist das industrielle Dreieck M-A-N des Königreichs beschrieben, innerhalb dessen sich der Wandel von einer agrarisch zur industriell geprägten Wirtschaftsform, fast gleichzeitig auch ein von vielen als harsch empfundener Übergang von einer traditionalen zu einer modernen Gesellschaft vollzog. Würzburg und sein näheres Umfeld blieben bis zur Reichsgründung von diesen Neuerungen weitgehend unberührt, wenngleich mit der Ost-West-Bahnverbindung eine schnelle Anbindung an den überregionalen Wirtschaftsraum Bayerns und zum Rhein-Main-Gebiet gegeben war.

Späte Industrialisierung Würzburgs

Würzburg bleibt handwerklich-kleingewerblich geprägt und in ein agrarisches Umland eingebettet und hinkt, was seine industrielle Entwicklung anbetrifft, sogar hinter vergleichbaren unterfränkischen Städten wie Schweinfurt und Aschaffenburg hinterher. Während sich die Bevölkerung der unterfränkischen Metropole von der Öffnung für die Eisenbahn und dem gleichzeitigen Verlust seines linksmainischen Festungscharakters Mitte der 50er Jahre des 19. Jh. bis 1890 auf knapp 62.000 fast verdoppelt hatte, um dann in den folgenden beiden Jahrzehnten noch einmal um fast 30.000 zuzulegen, stieg die Zahl der Beschäftigten in Handel und Industrie in Würzburg zwischen 1855 und 1907 um 100%, während diese Beschäftigtengruppe in Schweinfurt um 166%, in Aschaffenburg sogar um 200% zunahm.  Bedeutsamer noch als die bloße Zahl der im produktiven und tertiären Sektor Beschäftigten ist die Betriebsgröße, hier zu messen anhand der Zahl der Beschäftigten. Erst ein Betrieb von mehr als 20 Beschäftigten in der Produktion bedurfte damals einer eigenen Verwaltung, um dort einen oder mehrere Handlungsgehilfen dauerhaft und speziell mit der Erfassung und Dokumentation interner und externer Betriebsvorgänge betrauen zu müssen. Ein Blick auf die Betriebgrößenstatistik von 1895 zeigt für Würzburg ernüchternde Ergebnisse: 85% der Betriebe zählen hier weniger als 5 Beschäftigte, und nicht mal ein Prozent beschäftigen mehr als 50 Mitarbeiter.  Die metallverarbeitenden Betriebe Koenig & Bauer (Oberzell), die Noell’sche Waggonfabrik und I.M. Reinhardt Maschinenfabrik stellten in Würzburg die Ausnahme dar. Typisch und prägend für Würzburg war und blieb also bis zur Jahrhundertwende der oft handwerkliche Kleinstbetrieb, der für ein eigenes Bureau, geschweige denn Handlungsgehilfen keinen Bedarf hatte. Die Produktion für den überregionalen Markt im Fabriksystem bedingt die Unterwerfung der Produzierenden unter abstrakte Normen, die aufgrund ihrer Losgelöstheit von der sinnlichen Erfahrbarkeit der Arbeiter durch schriftliche Ordnungen fixiert werden mussten und nur so sanktionsfähig gemacht werden konnten.

Fabriksystem und Normierung 

Die reichseinheitliche Fixierung ab 1871 von Zeit (MEZ), Maß-, Gewichts- (m- kg- s) und Münzsystemen sollte die bisher gebräuchlichen, tradierten bzw. sinnlich erfahrbaren “Einheiten” wie Elle, Tagwerk, Scheffel, Heller ablösen. Die Einführung, vor aller aber die Durchsetzung der Normen war die Voraussetzung für die Optimierung von standardisierten Arbeitsabläufen in der Produktion, deren Planung, Organisation und Kontrolle wiederum den neuen Typus der Handlungsgehilfen in Verwaltung des Betriebs erforderte. Gruppen bis zu 7 Mitgliedern können ihre Kommunikation noch verbal regeln, größere Gruppen brauchen eine schriftlich fixierte Ordnung, sei es eine Fabrik-Ordnung oder sogar eine Bureau-Ordnung,  wenn die Verwaltung der Normen, Kategorien und Rationalisierung ihrerseits eine Verwaltungsabteilung mit mehr als 5-7 Angestellten in der Fabrik bedingt.

Normenkongruenz der Produktion erfordert auch für die Verwaltung selbst einen einheitlichen Code, in dem die Normvorschriften niedergelegt wird: Konrad Duden versucht sich im Jahrzehnt unserer Schulgründung an der systematischen Orthographie des Wortvorrats (sic!) der deutschen Sprache. Nach Duden kann dieser Wortvorrat linguistisch auf Häufigkeit und Wiederholbarkeit von Zeichen, Lauten und Silben analysiert werden, um dann durch stenographische Standardisierung und Remingtons Schreibmaschine weiter entindividualisert zu werden. War noch der Übergang vom Handwerk zur Fabrik für die Fabrikarbeiterschaft mit der Erfahrung drastischer Disziplinierung der Fabrik-Ordnungen, Entfremdung sowie einer schmerzlichen Trennung zwischen Wohn- und Arbeitswelt verbunden, so müssen eine Generation später die Handlungsgehilfen - wie sich die Angestellten in der Verwaltung der Betriebe überwiegend selbst bezeichneten - eine gravierende Entwertung ihrer Tätigkeiten hinnehmen - weitgehend ohne sich dessen bewusst zu sein.

Vom Secretair zur Sekretärin 

Der Sekretär besaß vormals Kenntnis aller Geheimnisse (frz.: secrets) seines Betriebs und war sich der Bedeutung seiner Stellung bewusst. Mit der industriellen Normierung und Entindividualisierung der Dokumentation von - geheimen oder öffentlichen - Betriebsvorgängen wird aber nunmehr eine beliebige Austauschbarkeit dieser Position angestrebt. Der ideale Sekretär neuen Typus ist eine bloße Maschine, die betriebliche Äußerungen seines Vorgesetzen effizient registriert, mechanisch dokumentiert und vorschriftsmäßig vor- und ablegt. Seine Arbeitsergebnisse sind rechtlich irrelevant, denn ihnen fehlt das entscheidende Kriterium der neuen Betriebs-Elite: der individuelle Namenszug des Entscheidungsbefugten. Zur Verdeutlichung des Paradigmawechsels mögen mittelalterliche Kaiserurkunden dienen: Urkunden aus dieser Zeit wurden von Spezialisten handschriftlich dem Herrscher zugeleitet, denen dieser mit einem bloßen Vollziehungsstrich durch das standardisierte Bild der Initialen seines Herrschernamens Rechtskraft verlieh. Nunmehr aber wird erst durch die individuelle, zwingend handschriftliche Unterschrift das typisierte, weil getippte, Geschäftsdokument rechtlich bindend.

Der Normalisierung der Sekretärsarbeit entspricht also die Ökonomie der individuellen Unterschrift unter ein Geschäftsdokument durch den Zeichnungsberechtigten. Der Handelnde zeichnet sich durch seine einzigartige Handschrift aus, der Handlungsgehilfe wird durch die Austauschbarkeit seiner normierten Kurz- oder Maschinenschrift entwertet. Unter Marktmechanismen erfordert die nahezu beliebige Austauschbarkeit von Handlungsgehilfen die Suche nach billigeren Arbeitskräften für deren Tätigkeiten: Wieso männliche Handlungsgehilfen zu 1.200 bis 1.600  Mark pro Jahr entlohnen, wenn Frauen sich entscheidend billiger anbieten mussten?

Der neue Beruf der Sekretärin war geboren, insbesondere wenn Zeitgenossen des späten 19., aber auch noch ausgehenden 20. Jh. Frauen eine habituelle Disposition zu bloß repetitiven Tätigkeiten unterstellen: “Die im Büro anfallenden schreibtechnischen, verwaltenden, ... und vielfach auch repräsentativen Arbeiten ... [sprächen] die Natur der Frau und damit ihr berufliches Interesse besonders an...” Der instrumentelle Charakter der Definintion von weiblichen Bedürfnissen, Begabungen und “Naturell” wird vom (männlichen) Kopf auf die Füße gestellt durch einen Blick auf die Einkommenssituation der vorwiegend kleinbürgerlichen Kreise der Würzburger Bevölkerung, die 1897 erstmals ihre Töchter nach der siebenjährigen Volksschule an die Erweiterte Fortbildungsschule für Mädchen sandte.

"Natürliche Begabung" und existenzielle Not

Um 1900 betrug der Jahresverdienst von qualifizierten Arbeitern in Würzburg zwischen 1.200 und 1.600 Mk. Ihnen gleichzusetzen waren einfache Beamte und Privatangestellte. Mittlere Beamte und Privatbeamte konnten mit bis zu 400 Mk im Jahr mehr rechnen. Wenn man für die reine Ernährung einer vierköpfigen Familie ca. 1.000 Mk, für die Miete einer sehr einfachen Wohnung weitere 200 Mk veranschlagt, Kleidung, Körperpflege sowie Gesundheitsvorsorge nicht außen vor läßt, so lässt sich mit Schönhoven feststellen, dass “eine vierköpfige Familie ... also nur dann ihren Lebensunterhalt einigermaßen bestreiten [konnte], wenn ihr Haushaltsbudget durch Nebenverdienste des Familienvaters, durch Zusatzverdienste von Frau und Kindern oder durch Untervermietung der ohnedies oft sehr beschränkten Wohnfläche aufgebessert wurde..”  Um die oft nur subjektive Abgrenzung zwischen Arbeiterschaft und Privatbeamten auch materiell aufrechterhalten zu können waren die Kinder, besonders aber die Tochter gefordert, zum Familieneinkommen entscheidend beizutragen. Der Abstand nach oben, zu den höheren Töchtern, blieb unerreichbar. Jene konnten sich eine zweckfreie Weiterbildung auf Familienkosten leisten mit. Dort oben hatte die Familie einem standesgemäßen Ehegatten mit der entsprechenden Mitgift einen entsprechenden Versorgungsausgleich zu leisten. Hienieden wurde immer noch eine entsprechend verminderte Mitgift für zu verheiratende Töchter erwartet, aber wovon?

Ein berufliche Tätigkeit im Fabriksystem hätte die Tochter als Handelsobjekt entscheidend entwertet, sie mit dem Proletariat gleichgestellt. Zudem waren in Würzburg die Stellen für junge Frauen in der Fabrik – wie bereits dargestellt – dünn gesät. Weiterbildung für junge Frauen aus der Mittelschicht war gefragt. Das war die eigentliche Geburtsstunde der Erweiternden Fortbildungsschule für Mädchen in Würzburg, deren Risiken als so groß angesehen wurden, dass zunächst kein Privatmann (!) dafür sein Kapital riskieren wollte. Die Stadtgemeinde war gefordert.

Weiter mit Aufbaujahre 1897 - 1918